Es gibt unzählige sachliche und objektiv nachvollziehbare Gründe, die für eine Einführung der Individualbesteuerung in der Schweiz auf Ebene der natürlichen Personen sprechen:
…aus steuertheoretischer Sicht[1]
Anerkannte Steuerfachleute wie Andrea Opel, Stefan Oesterhelt und weitere plädieren seit Jahren für eine Einführung der Individualbesteuerung. Die vielfältigen und überzeugenden Argumente können in zahlreichen Fachartikeln nachgelesen werden.
…aus genderneutraler Sicht
Die heutige Ehepaarbesteuerung ist nicht genderneutral und im weitesten Sinne somit diskriminierend.
…aus Sicht des Fachkräftemangels
Der latente Fachkräftemangel wird durch die heutige Besteuerungsform der Familienbesteuerung sicher nicht positiv beeinflusst. Die «Heiratsstrafe» setzt diesbezüglich Fehlanreize infolge der progressiven Ausgestaltung des Steuersatzes. Dies wiederum führt dazu, dass der wirtschaftliche, finanzielle Anreiz für eine Beschäftigung des Ehepartners nicht sehr gross ist.
…aus Sicht der Verfassungskonformität
Die heutige Ehepaarbesteuerung ist im Grundsatz nicht verfassungskonform und verstösst gegen das allgemeine Gleichbehandlungsverbot.
…aus Sicht der internationalen Praxis und Entwicklungen
International - vor allem im europäischen Wirtschaftsraum - ist die Individualbesteuerung deutlich im Vormarsch. In vielen Ländern wird diese in Reinkultur, mit Wahlmöglichkeit der Ehepaar- oder Individualbesteuerung oder zumindest mit einem Splittingmodell umgesetzt[2].
Ohne Anspruch auf Vollständigkeit der Argumente ist es wie bei vielem: Auf einer grünen Wiese würde man das Steuersystem heutzutage vermutlich mit Individualbesteuerung errichten und nicht mit der heute geltenden Ehepaarbesteuerung.
Nun, weshalb dieser Blogbeitrag, wenn es offensichtlich ist, dass die Individualbesteuerung theoretisch, volkswirtschaftlich (Anreiz für Arbeitstätigkeit der Ehegatten) und somit auch politisch gewünscht ist? Liegt der Hund bei den Finanzen begraben? Nein, je nach konkreter Ausgestaltung wird die Individualbesteuerung mit überschaubaren finanziellen Folgen tragbar sein. In der Vernehmlassungsvorlage geht man von Mindereinnahmen auf Bundesebene von einer Milliarde Franken aus, wobei rund 80 Prozent der Bund tragen müsste und rund 20 Prozent die Kantone (infolge Aufteilung der Direkten Bundessteuern). Die Auswirkungen auf Kantonsebene sind stark abhängig vom progressiven Steuersatz und von den erwarteten Mehrbeschäftigungen der Ehegatten und damit verbundenen steuerlichen Mehreinnahmen.
Dennoch möchte ich es nicht unterlassen, die verwaltungsökonomischen, administrativen Effekte der Individualbesteuerung kritisch zu beleuchten.
Digitalisierung im Steuerwesen — Quo vadis?
Bereits heute sind die Formulare für die steuerliche Deklaration in der Schweiz - vor allem im Bereich der natürlichen Personen - infolge des föderalistischen Systems ein wahrhafter Flickenteppich. Digitalisierungsschritte und damit verbundene Effizienzsteigerungen für die Steuerpflichtigen (bzw. deren Steuerberater) bei der sogenannten Steuercompliance (Erstellung der Steuererklärung) sind nur in kleinen Schritten erkennbar. Der grosse Wurf scheint unmöglich mit den bestehenden Strukturen.
Von einer im Idealfall einheitlichen Steuererklärung mit einheitlichen Daten(-sätzen) sind wir noch (Licht-)Jahre entfernt. Gerade in dieser Hinsicht wird die Individualbesteuerung für die Gemeinde- und Kantonssteuerämter zu einer beachtlichen Mehrbelastung führen, da man von rund 1,7 Millionen zusätzlichen Steuererklärungen ausgeht[3]. Natürlich dürften sich infolge der Individualbesteuerung einige steuertheoretische Vereinfachungen ergeben. Es liegt jedoch in der Natur der Sache, dass der homo oeconomicus neue kreative Ideen zur Steueroptimierung entwickeln wird, welche vom Fiskus naturgemäss wieder mit Manpower kritisch beäugt werden müssen. Manpower, die ohne mutige Digitalisierungs- und Harmonisierungsschritte in der Welt der Steuererklärungen schnell rund zusätzliche, jährlich wiederkehrende Personalkosten von 100 Millionen Franken und mehr auslösen dürfte. Und diese 100 Millionen Franken dürften noch sehr konservativ geschätzt sein.
Fazit
Die Individualbesteuerung ist in fachlicher Hinsicht unbestritten. Jedem liberal und wirtschaftlich denkenden Menschen muss jedoch der damit verbundene Mehraufwand auf der Verwaltungsseite ein Dorn im Auge sein. Für die Steuerämter dürfte die Individualbesteuerung infolge des aktuell vorherrschenden Fachkräftemangels eine beachtliche Herausforderung darstellen. Somit bleibt eigentlich nur eine Lösung: Mut zur deklaratorischen Harmonisierung im Bereich der Steuerklärungen — für natürliche Personen und dann aber auch für juristische Personen. Dabei ist unbestritten, dass an der heutigen Aufgabenteilung zwischen Bund und Kantonen (z.B. hinsichtlich der Steuersatzautonomie der Kantone) nicht gerüttelt werden soll.
Jedoch kann nur der Mut zur Vereinheitlichung (Digitalisierung) garantieren, dass die vorhandenen positiven Effekte der Individualbesteuerung ohne negative Kollateralschäden auf verwaltungsökonomischer Seite umgesetzt werden.
Als Steuerberater und Treuhänder bei BDO hätte ich trotz möglicherweise kurzfristigen positiven Aspekten - infolge erhöhter Anzahl Steuererklärungen - langfristig keine Freude an einer Individualbesteuerung, die ohne flankierende Digitalisierungsmassnahmen eingeführt wird.
[1] Siehe z.B. Artikel wie z.B. SteuerRevue 3/2021, Frauenbenachteiligende Familienbesteuerung, Seite 182 - Seite 200 von Andrea Opel oder SteuerRevue 1/2023, EMRK-widrige Ehegattenbesteuerung? Seite 19 - Seite 37 von Andrea Opel und Stefan Oesterhelt.
[2] Siehe Erläuternder Bericht zum Bundesgesetz über die Individualbesteuerung vom 2. Dezember 2022, Eidgenössisches Finanzdepartement, Seite 38 - 42.
[3] Siehe Erläuternder Bericht zum Bundesgesetz über die Individualbesteuerung vom 2. Dezember 2022, Eidgenössisches Finanzdepartement, Seite 73.